Die Wahrheit der Farbe

Zu einer neuen Werkgruppe des Malers Franz-Josef Weidenhaupt

Von Ralf Kulschewskij


„Die Farbe in der Malerei“ 1) hatte für die Gelehrten in der Antike durchweg einen zutiefst zweideutigen Status. Auf der einen Seite stand sie für das Nebensächliche, das rein Dekorative, das Illusorische, andererseits aber war es die Farbe, die der Malerei Leben und Wahrheit verlieh.“ Diesen ambivalenten Grundzug klassischer Auffassung brachte der hellenistische Philosoph Plutarch in einem brillianten Paradoxon auf den Punkt: „Ebenso wie in Bildern die Farbe anregender ist als die Linienzeichnung, weil sie lebensecht ist und eine Illusion erzeugt, so wirkt in der Dichtung Unwahrheit in Verbindung mit Glaubwürdigkeit einprägsamer und bereitet mehr Freude als das in Metrum und Spräche äußerst kunstvolle Werk, das aber der Phantasie und Erfindung ermangelt.“ („Moralia“, 16 c)

Eine derartige Sichtweise ist in der modernen Kunst bekanntlich überwunden. Die Farbe hat sich längst zu völliger Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit emanzipiert. Nicht zuletzt die Werke der großen gegenwärtig lebenden „Farbmaler“ stehen dafür: Kuno Gonschior, Raimer Jochims, Ricardo Saro, Edgar Hofschen seien als deutsche Vertreter genannt. Als überzeugendes Beispiel des erfolgreichen Bemühens eines Künstlers der jüngeren Generation der Farbe in der Malerei zu ihrer eigenwüchsigen Aussagefähigkeit, ihrem autochthonen Recht, ihrer originären Wahrhaftigkeit zu verhelfen wird hier eine neue Gruppe von Werken Franz-Josef Weidenhaupts vorgestellt.

Das OEuvre Weidenhaupts hat sich von den flächenfüllend mischtechnischen Bildern der Achtzigerjahre, in denen formale Zusammenhänge und koloristische Bewegungen sich durchs Bild verfolgen ließen und nicht nur assoziativ, sondern ausdrücklich und eindeutig identifizierbar Gegenstände aus der Farbe erschienen (Brückenbogen, Balkongitter) zu den „Geschnittenen Bildern“ der Neunzigermitte entwickelt.2) Diese „Bilder“, sowohl zweidimensionale Blätter, als auch kubische Objekte, waren – ihrer zutreffenden Bezeichnung entsprechend – nicht durch gezogene, gezeichnete, gemalte, sondern durch aus dem tragenden Material (Papier, Tapete, Stoff) herausgeschnittene Linien charakterisiert, in denen Geäst, Geflecht, Gewühl eine stark reduzierte Farbigkeit vom kompakten Schwarz bis zum deckenden Weiß über verschiedene gestische Zwischenstufen (und gelegentlich „naturbelassene“ Partien des Malgrundes) auftrat und sich zu behaupten suchte. Zwei divergierende Systeme, die letztlich beide formaler Art waren, korrespondierten und konkurrierten mit- und gegeneinander. So schien es jedenfalls dem Betrachter. Darum trifft ihn der Anblick der neuesten Arbeiten in dieser ihrer ersten Ausstellung möglicherweise unerwartet. Denn etwas ist in ihnen grundlegend anders.

Dieses Andere ist natürlich die Farbe, genauer: die Mehrfarbigkeit – das ist dem ersten Blick offensichtlich. Doch liegt hinter dem Evidenten noch ein prinzipielles Etwas, das einen fundamentalen Unterschied bedeutet. Die Farbe ist in diesen Werken nämlich keineswegs ein situatives Ingrediens, ein Tertium datum, ein – wenn auch neues und schönes – Additum. Dann hätten wir es bloß mit einer Variation zu tun – ein bißchen schwieriger ist es doch.

Nach wie vor natürlich geht der Künstler aus von einer gewissen Imagination. Er baut – in der intendierten Größe – ein Gestell; er bespannt es mit Baumwollstoff: auf diesen kleistert er Papier, japanisches Aquarellpapier. Dann malt er – ungefähren Vorstudien folgend – Linien mit Wasserfarben auf das an der Wand hängende Bildträgergerüst. Und jetzt erst schneidet er mit verschiedenen Messern und manchmal einer Schere die gemalten Linien aus der teilweise unbemalt gebliebenen Fläche. Es werden also nicht – wie zuvor mitunter – existierende materiale Strukturen zusätzlich koloriert, sondern – nun grundsätzlich – farbliche Strukturen durch Beschneiden überdies exponiert. Eine Frage der handwerklichen Praxis, will es oberflächlich scheinen – in Wahrheit ein konsequentes Symptom, ja, das Punctum saliens des künstlerischen Zwecks. Denn hier wurde keineswegs ein Raumgebilde farblich gefaßt – sondern die Farbe von ihren zweidimensionalen Bedingungen entbunden, um deren eigene Räumlichkeit freizugeben.

Wie auch immer seine früheren Arbeiten gattungsmäßig zuzuordnen gewesen sein mögen (als Zeichnungen, Bilder, fenster- oder altarartige bewegliche Tafeln, Rahmen, Kästen; als „Scherenschnitte“ im biedermeierlich kunsthistorischen Sinne sowieso nicht; von „Kuben“ sprach der Künstler damals selbst 2), Franz-Josef Weidenhaupt versteht und bezeichnet die Arbeiten dieser Werkgruppe nicht als skulpturale Objekte. Es sind Bilder, die aus Farbenlinien bestehen. Und es geht nicht um den Körper des Bildes, sondern um die Farbigkeit der Linien. Deren Feinheit und Leichtigkeit fasziniert, doch ist das Filigrane nur mitproduziert und sekündär. (Auch die materiale Gefährdung, die einer stellenweisen Stützung bedarf, oder eine Wellung hier oder Verwerfung dort sind nur Äußerlichkeiten.) Wichtiger ist die Wand hinter den Linien und der zwischen den beiden eröffnete (circa 14 – 21 cm Tiefe) Raum – dieser jedoch nicht in eigener Existenz. Vielmehr gewinnt durch ihn die Farbe eine weitere Valorisation. Ohnehin sensibel und delikat auf das extrem empfindliche Reispapier aufgetragen, ermöglicht der leere Raum eine ungehinderten Zugang des Lichts zur aquarellierten Farbe – andererseits wird der Luftraum durch die Farbigkeit der Linien belebt.

In den hier vorgestellten zehn Werken kleineren, mittleren und großen Formats (bis zu zwei auf drei Meter) aus den Schaffensjahren 1997 – 99 wird Farbe also nicht in ihrer Materialität problematisiert (wie bei den genannten Malerkollegen teils der Fall), sondern die Farbe in einen transitorischen Aktionsbereich überführt und ihre Wertigkeit als Wirkungsphänomen untersucht. Die spontan gemalten Linienbänder fesseln den Blick mit Schlaufen und Knäueln, formieren sich zu stadtplanartigen Texturen und verdichten sich zu Geflechten. Die schmalen Farbflächen (zwischen einen halben und zwei Zentimetern stark), ihre Abzweigungen und Gabelungen, Überschneidungen und Überkreuzungen, „erscheinen raumbildend in einer visuellen Korrespondenz mit dem materiell nicht vorhanden Umraum“ (so der Künstler selbst). Hier handelt es sich nicht um ritzendes, schnitzendes, grabendes, jedenfalls stets partielles Wegnehmen, sondern um ein fortschreitendes Kreieren durch radikale Elimination.

Die rigorose Resektion geschieht zugunsten der Nah- und Fernwerte der Farben. Innerhalb einer Linie tritt das wasserlösliche Farbmaterial in unterschiedlich nuancierter Konzentration auf. Der Blick des Betrachters wird ständig in Bewegung gehalten. In tastenden, schweifenden, schwebenden Auge bildet sich eine vibrierende Tiefe. Diese allmählich sich aufbauende „Räumlichkeit eines Farbraumes ist eine in den Farben selbst schon enthaltende Erscheinungswirklichkeit. Vor Farbräumen kann der Beschauer die Gewißheit seines eigenen Standorts verlieren, er ist – im Verlust dieser Gewißheit – aus allen Mechanismen rationaler Orientierung ausgeschlossen und damit ins Irgendwo (..) gestellt“, befand Max Imdahl 3).

Und diese Räumlichkeit der Farbe setzt sich – vermöge der Spannung der Linienführung – über das Bildgeviert hinweg fort. Das reale Bild ist ein Ausschnitt eines endlosen Farben-Linien-Raumes. In diesem geradezu kosmischen Raum, den die Arbeiten Franz-Josef Weidenhaupts eröffnen, findet sich der interaktiv wahrnehmende Betrachter mit der von dekorativen, illusionistischen, verlebendigenden oder sonstigen Zwecksetzungen erlösten Farbe in ihrer eigenen existentiellen Wahrheit konfrontiert. Da kann dem Farb-Liebenden unversehens geschehen, worum Petrarca den Apoll erst bitten mußte:


„Befrei die Luft von Nebel und von Nacht,

so wird als Wunder dann uns die Gestalt

der Herrin hier im Grün vor Augen sein,

die mit den Armen selbst sich Schatten macht“

(„Canzoniere“, 34) 4)

 

1. So konstatiert nicht nur John Gage in seiner „Kulturgeschichte der Farbe“, Ravensburg 1997.

2. Beide Stationen des künstlerischen Werdegangs wurden in Ausstellungen in Aachen und andernorts präsentiert sowie in Katalogen dokumentiert:
„Künstler in Aachen heute (V)“, Suermondt-Ludwig-Museum und Museumsverein Aachen, 1986/87 „Franz-Josef Weidenhaupt, Geschnittene Bilder“, Suermodt-Ludwig-Museum Aachen 1997

3. Max Imdahl, „Farbraumkörper“, in „Gotthard Graubner: Fifth Triennale India“, New Delhi 1982. Die naturwissenschaftliche Sinnessphysiologie wird das Ihre dazu zu sagen haben.

4. Karlheinz Stierle, „Petrarca“, Darmstadt 1998